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»Du wirst doch heute keine Dummheiten machen?« Die fünfzehnjährige Una schaute ihre Freundin nervös an. Es war ein warmer Maimorgen, und es sollte ein wunderschöner Tag werden.
»Warum sollte ich etwas Dummes tun, Una?«, fragte sie mit großen, unschuldigen, lachenden grünen Augen.
Weil du es immer tust, dachte Una; doch stattdessen sagte sie: »Dieses Mal meint er es wirklich ernst, Fionnuala. Er wird dich zu deinen Eltern zurückschicken. Willst du das etwa?«
»Du wirst auf mich aufpassen.«
Ja, dachte Una, das tue ich doch immer. Und vielleicht sollte ich es nicht tun. Fionnuala war liebenswert, denn sie war lustig und hatte ein gutes Herz – wenn sie nicht gerade mit ihrer Mutter stritt –, und in ihrer Nähe schien das Leben freundlicher und aufregender zu sein, da man nie wusste, was als Nächstes geschehen würde. Doch wenn ein so gütiger Mann wie Ailred the Palmer die Geduld verlor…
»Ich werde brav sein, Una. Ich verspreche es.«
Nein, das wirst du nicht, hätte Una schreien können. Du wirst es keinesfalls sein. Und wir wissen es beide. »Sieh doch, Una«, rief Fionnuala plötzlich. »Äpfel.« Und mit wehendem langem, dunklem Haar rannte sie über den kleinen Marktplatz auf einen Obststand zu.
* * *
Wie konnte sich Fionnuala nur so benehmen? Vor allem wenn man in Betracht zog, wer ihr Vater war. Die Ui Fergusa hatten bereits vor langer Zeit die Macht im Land verloren, doch die Leute schauten noch immer respektvoll zu ihnen auf. Ihr kleines Kloster am Hang über dem dunklen Teich war zwar vor einiger Zeit aufgelöst und die Kapelle zu einer kleinen Pfarrkirche für die Familie und deren Angehörige gemacht worden; doch Fionnualas Vater, Conn der Priester, genoss immer noch hohes Ansehen. Aufgrund seiner ehemaligen Position und wegen des Lands seiner Vorväter in der Gegend behandelte ihn der König von Dublin ebenso wie der Erzbischof mit freundlicher Höflichkeit. Una hatte immer Ehrfurcht vor ihm wegen seiner hoch gewachsenen, stattlichen Gestalt und seiner würdevollen Art zu sprechen. Auch war sie sich sicher, dass er sehr gutherzig war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er Fionnuala schlecht behandelte. Wie konnte Fionnuala nur daran denken, etwas zu tun, das ihn enttäuschte?
Zugegeben, mit ihrer Mutter standen die Dinge anders. Sie und Fionnuala hatten immer Streit. Sie wollte, dass ihre Tochter etwas Bestimmtes tat; und Fionnuala wollte etwas anderes tun. Doch Una war sich unsicher, ob sie die Mutter für die dauernden Auseinandersetzungen verantwortlich machen sollte. »Wenn ich deine Mutter wäre, würde ich dir einen Klaps geben«, hatte sie des Öfteren zu ihrer Freundin gesagt. Vor zwei Jahren hatten die Auseinandersetzungen in der Familie ein solch übles Ausmaß angenommen, dass vereinbart worden war, Fionnuala solle während der Woche bei Ailred dem Palmer und seiner Frau leben. Und nun hatte sogar Ailred von ihr genug.
Dabei konnte man sich kaum eine nettere Familie vorstellen. Jeder in Dublin liebte den reichen Nordländer, dessen Familie das große Gehöft in Fingal so lange gehört hatte. Seine Mutter stammte von einer Sachsenfamilie ab, die England nach der normannischen Eroberung verlassen hatte, und sie hatte ihm den englischen Namen Ailred gegeben; doch sie hatte blaue Augen wie ihr Mann, und Ailred sah genauso aus wie seine rothaarigen norwegischen Vorfahren. Er war großzügig und entgegenkommend. Und er war religiös.
Die Iren waren schon immer zu heiligen Stätten gepilgert, von denen es etliche in Irland gab. Und überquerten sie das Meer, reisten sie vielleicht sogar bis zum großen Schrein des heiligen Jakobus im spanischen Compostela. Doch nur wenige, sehr wenige, hatten den gefährlichen Weg ins Heilige Land gewagt, und hatten sie erst einmal Jerusalem erreicht, betraten sie die Heilige Stadt mit einem Palmzweig in der Hand. Bei seiner Rückkehr wurde ein solcher Pilger als »Palmer« bezeichnet. Ailred hatte diese Reise unternommen.
Und es schien, als habe Gott ihn belohnt. Er besaß nicht nur das große Gehöft in Fingal, sondern noch weitere Ländereien. Er hatte eine Frau, die ihn liebte. Aber dann war ihr einziger Sohn Harold auf Pilgerreise gegangen, so hieß es, und war nicht zurückgekehrt. Fünf Jahre waren seitdem vergangen. Keine einzige Nachricht von ihm; und seine unglücklichen Eltern hatten sich schließlich in ihr Schicksal gefügt, dass sie ihn nie mehr wieder sehen würden. Vielleicht um diesen großen Verlust auszugleichen, hatten Ailred und seine nette Frau auf einem Stück Land, das ihm gehörte und das vor dem Stadttor lag, ein Hospiz gegründet. Auf seiner Pilgerreise hatte er oft solche Häuser gesehen, wo Kranke gepflegt wurden und müde Reisende sich erholen konnten; in Dublin hatte es eine solche Einrichtung bisher noch nicht gegeben. Seine Frau und er verbrachten jetzt sehr viel Zeit dort. Er nannte es das Hospiz des heiligen Johannes des Täufers.
Una ahnte, dass Ailred und seine Frau trotz all ihrer Arbeit noch immer sehr einsam waren. Vielleicht hatten sie deswegen, als Fionnualas Vater eines Tages über die Probleme mit seiner Tochter klagte, das Angebot gemacht, sie in ihrem Hause aufzunehmen. »Im Hospiz gibt es so viele Dinge zu tun, bei denen sie uns helfen kann«, hatte Ailred erklärt. »Sie wird uns wie eine Tochter sein.« Und so wurde alles vereinbart. Samstags kehrte Fionnuala in das Haus ihrer Eltern zurück und verbrachte mit ihnen den Sonntag. Doch von Montag bis Freitag lebte sie bei Ailred und seiner Frau und half im Hospiz.
Die Vereinbarung hatte fast eine Woche bestens funktioniert.
Una erinnerte sich sehr gut an den Tag, als der Palmer ihren Vater aufgesucht hatte. Fionnuala war erst seit einer Woche im Hospiz. »Es ist nicht gut für das Kind, in unserem Haus allein unter alten Menschen zu sein«, hatte der Palmer erklärt. »Wir möchten, dass sie eine Gefährtin hat, ein gleichaltriges feinfühliges Mädchen, das ihr helfen könnte, sich wohler zu fühlen.«
Warum nur bezeichneten sie alle als feinfühlig? Lag es wirklich an ihrem Wesen? Oder hatte es etwas mit ihrer Familie zu tun? Als ihre älteste Schwester starb und ihre Brüder noch kleine Kinder waren, hatte Una gespürt, dass ihre Eltern auf sie angewiesen waren. Vor allem ihr Vater.
Kevin MacGowan, der Silberschmied, war kein kräftiger Mann, sondern kurz gewachsen und dürr. Wenn er sich besonders konzentriert über seine Arbeit beugte, verzog er das Gesicht unbewusst zu einer Grimasse, so dass es aussah, als litte er unter argen Schmerzen, und sie vermutete, dass es manchmal auch so war. Doch in seinem zerbrechlichen Körper steckte eine feurige Seele, und seine Arbeit wurde geschätzt. Darum schaute ihm Una auch gern zu, während er arbeitete. Seine Finger, die schmal und knochig waren, schienen dann neue Kraft zu gewinnen, und seine Augen strahlten.
In den letzten Jahren hatte die harte Arbeit ihres Vaters der Familie einen gewissen Wohlstand eingebracht. Außerhalb Dublins bemaßen die Leute ihren Reichtum immer noch in Vieh. Der Reichtum aber, den Kevin MacGowan sich erarbeitet hatte, war der Silberschatz, den er in einer kleinen Kassette aufbewahrte. »Sollte mir etwas zustoßen«, sagte er stets mit leichtem Stolz zu Una, »wird dies der Familie weiterhelfen.«
Er hatte für seine Familie sehr umsichtig geplant. Die alte Kirche im Zentrum von Dublin war einige Jahre nach der Schlacht von Clontarf in den Rang einer Kathedrale erhoben und seitdem zu einem recht stattlichen Bauwerk erweitert worden. In Westeuropa entwickelte sich die Architektur hin zum leichten, zarten gotischen Stil, doch in Irland blieb der schwere, monumentale romanische Stil der früheren Zeiten mit seinen hohen nackten Mauern und dicken geschwungenen Bögen in Mode, und die Dubliner Kathedrale bot ein gutes Beispiel dafür. Mit ihren mächtigen Mauern und ihrem hohen Dach überragte sie die kleine Stadt. Offiziell hieß sie Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit, »Church of the Holy Trinity«, aber alle nannten sie Christ Church. Und mindestens ein Mal im Monat führte Kevin seine Tochter in diese Kathedrale.
»Da, das echte Kreuz, an dem unser Herrgott gekreuzigt wurde«, sagte er dann und zeigte dabei auf ein kleines Holzstück, das in einem goldenen Kästchen aufbewahrt wurde. Die Christ Church war berühmt für ihre Reliquiensammlung. »Da ist ein Teil des Kreuzes des Sankt Petrus, da ein Stück des Gewands unserer Mutter Gottes, und das da ist ein Stück von der Krippe, in der Christus geboren ist.« Die Kathedrale hatte sogar einen Tropfen Milch der gesegneten Jungfrau Maria, mit der sie ihr Jesuskind genährt hatte.
Doch mehr noch als diese heiligen Gegenstände wurden die beiden Schätze verehrt, die jeder Besucher der Stadt Dublin sich anschaute. Einer war ein großes Kruzifix, von dem es hieß, es würde wie ein alter heidnischer Stein aus der Vorzeit manchmal anfangen zu sprechen. Der andere war der prächtige Stab, den ein Engel dem heiligen Patrick persönlich übergeben haben soll: Dies war der berühmte Bachall Iosa, der Jesusstab. Er wurde in einem Schrein nördlich von Dublin aufbewahrt und zu besonderen Gelegenheiten in die Christ Church gebracht.
Wenn Una ehrfürchtig diese Wunderdinge bestaunte, sagte ihr Vater: »Sollte die Stadt je in Gefahr sein, Una, bringen wir die Kassette zu den Mönchen in die Kathedrale. In ihrer Obhut wird sie ebenso sicher sein wie diese Reliquien, die du hier vor dir siehst.« Es beruhigte beide zu wissen, dass ihr kleiner weltlicher Schatz von den Hütern des echten Kreuzes und des Bachall Iosa beschützt werden würde.
Una wusste, dass ihr Vater die Gedanken an diese Silberkassette Tag für Tag wie einen Talisman oder ein Pilgeramulett mit sich herumtrug.
Da er so viel arbeitete, hatte er nun einen Gehilfen, und ihre Mutter hatte ein englisches Sklavenmädchen, das ihr im Haushalt half. Ihre beiden Brüder waren gesunde aufgeweckte Jungen. Es gab also keinen Grund, warum Una nicht drei Tage in der Woche im Hospiz von Ailred dem Palmer verbringen könnte, zumal es nur einige hundert Meter von ihrem Zuhause entfernt lag. Und schon bald ging sie montags ins Hospiz und verließ es freitags wieder. Da Fionnuala die Sonntage mit ihrer Familie verbringen sollte, bedeutete dies, dass der Palmer und seine Frau sie nur einen einzigen Tag in der Woche unter Kontrolle halten mussten, was, wie sie tapfer erklärten, keine Schwierigkeit sei.
Sie waren ein besonders liebenswertes Paar, der groß gewachsene rothaarige Nordmann und seine stille, grauhaarige Frau. Una ahnte, welch ein Schlag der Verlust ihres Sohnes Harold für sie gewesen sein musste; sie sprach sie nie auf dieses Thema an. Doch als sie einmal im Hospiz gemeinsam Laken zusammenlegten, lächelte die ältere Frau Una sanft an und sagte: »Ich hatte auch eine kleine Tochter, weißt du. Sie starb, als sie zwei Jahre alt war. Hätte sie überlebt, wäre sie, glaube ich, genau wie du.« Una war so bewegt und hatte sich geehrt gefühlt. Manchmal betete sie, dass der Sohn zurückkehren möge; doch natürlich geschah es nicht.
Una mochte das Hospiz des heiligen Johannes des Täufers. Zurzeit zählte es dreißig Bewohner; die Männer in einem Schlafsaal, die Frauen in einem anderen. Jeder Kranke wurde hier behandelt, mit Ausnahme von Leprakranken, denen niemand zu nahe kommen wollte. Die Menschen zu füttern und zu pflegen bedeutete eine Menge Arbeit, doch Una gefiel es vor allem, mit ihnen zu sprechen und ihre Geschichten anzuhören. Sie war äußerst beliebt. Fionnuala hatte einen anderen Ruf. Sie konnte lustig sein, wenn sie wollte. Sie flirtete arglos mit den alten Männern und brachte die Frauen zum Lachen. Doch hartes Arbeiten lag ihr nicht. Sie konnte die Bewohner mit einem köstlichen Obstkuchen überraschen und erfreuen; doch oftmals, inmitten einer ermüdenden Arbeit, musste Una feststellen, dass ihre Freundin einfach verschwunden war. Und manchmal, wenn sie etwas geärgert hatte oder wenn sie dachte, Una beachte sie nicht genug, konnte sie plötzlich in Wut geraten, dann warf sie ihre Arbeit nieder und rannte in einen anderen Flügel des Hospizes, wo sie schmollte.
Fionnuala hatte schon immer, seit sie ein kleines Mädchen war, die Männer angeschaut. Sie starrte sie mit ihren großen grünen Augen an, bis sie lachten. Doch jetzt war sie kein Kind mehr, sondern beinahe eine junge Frau. Und sie schaute sie noch immer an, aber nicht mehr mit dem erstaunten Kinderblick. Es war ein kühles, herausforderndes Starren. Sie starrte junge Männer auf der Straße an; sie starrte alte Männer im Hospiz an; sie starrte verheiratete Männer auf dem Markt in Gegenwart ihrer Frauen an, die es nicht mehr amüsant fanden. Doch als Erster beschwerte sich bei Ailred ein fahrender Händler, der im Hospiz untergekommen war, nachdem er sich ein Bein gebrochen hatte. »Dieses Mädchen macht mir schöne Augen«, sagte er. »Dann kam sie und setzte sich auf das Ende der Bank, auf der ich auch saß, und öffnete ihre Bluse, so dass ich ihre Brüste sehen konnte. Ich bin zu alt, um mit solchen Mädchen Spiele zu treiben«, meinte er zum Palmer. »Hätte ich nicht ein gebrochenes Bein, hätte ich hinübergelangt und ihr einen Klaps gegeben.«
Letzte Woche hatte es eine weitere Beschwerde gegeben, und dieses Mal war sie Ailreds Frau zu Ohren gekommen. Una hatte diese sanfte Frau noch nie so wütend gesehen.
»Man sollte dich auspeitschen!«, schrie sie.
»Wozu?«, hatte Fionnuala ruhig entgegnet. »Es könnte mich nicht abhalten.«
Beinahe wäre sie auf der Stelle nach Hause geschickt worden, doch Ailred hatte ihre noch eine Chance gegeben. »Ich will keine weiteren Klagen hören, Fionnuala, egal welcher Art«, sagte er. »Und falls doch«, hatte er ihr angedroht, »musst du nach Hause gehen. Dann kannst du nicht mehr zu uns kommen.«
Ein, zwei Tage war sie sehr still und nachdenklich. Doch schon bald benahm sie sich wieder wie zuvor; und obwohl Fionnuala darauf achtete, den Männern, die sie umsorgte, keinen Anlass zur Klage zu bieten, konnte Una in den Augen ihrer Freundin wieder das Unheil aufblitzen sehen.
Der Markt, auf dem die beiden Mädchen sich nun befanden, lag genau im Durchgang des Westtors. Erst wenige Generationen zuvor waren die alten Schutzwälle aus den Tagen des Brian Boru nach Westen ausgedehnt und alle aus Stein neu errichtet worden. Neben der Kathedrale, die über die Strohdächer der geschäftigen Flecken der Stadt mit ihren Häusern aus Holz– und Flechtwerk hinausragte, gab es nun sieben kleinere Kirchen. Jenseits des Flusses nördlich der Brücke war auch eine ausgedehnte Vorstadt entstanden.
Obwohl der Markt im Westen der Stadt nicht so groß war wie der nahe am Ufer, wo die Sklaven verkauft wurden, ging es auf ihm lebhaft zu. Da waren die Händler aus Nordfrankreich: Sie hatten ihre eigene Kirche, die Sankt Martin–Kirche, von der man auf den alten Teich von Dubh Linn sah. Dann war da eine englische Kolonie aus der geschäftigen Hafenstadt Chester, die genau im Osten auf der anderen Seite der Irischen See lag. Der Handel mit Chester hatte in den letzten Generationen zugenommen. Sie hatten eine sächsische Kirche mitten in der Stadt. Die skandinavischen Seeleute hatten ihre Kapelle, Sankt Olav mit Namen, nahe am Wasser. Und oft ließen Besucher aus Spanien oder aus noch ferneren Ländern den Markt noch strahlender und bunter erscheinen. Sogar die Stadtbevölkerung war nun sehr gemischt: riesige stämmige Kerle mit nordisch rotem Haar und irischen Namen; südländisch aussehende Männer, die einem erzählten, sie seien Dänen – man konnte von Ostmännern und Iren, Gaedil und Gaill sprechen, doch die Wahrheit war, dass man die einen kaum von den anderen unterscheiden konnte. Sie alle waren Dubliner. Und sie waren stolz darauf. Zu dieser Zeit zählten sie etwa vier– bis fünftausend.
Fionnuala stand am Obststand. Una hatte sie aufmerksam im Blick, während sie ihr hinterherging. Flirtete Fionnuala womöglich mit dem Markthändler oder mit einem der umstehenden Männer? Es sah nicht so aus. Ein gut aussehender junger französischer Händler schlenderte auf den Stand zu. Als der junge Mann näher kam, schien es Una, dass die Tochter des Priesters ausnahmsweise keine Notiz von ihm nahm. Una schickte ein Dankgebet gen Himmel. Vielleicht würde sich Fionnuala heute mal gut benehmen.
Als Una sah, was Fionnuala als Nächstes tat, verstand sie es zuerst nicht. Es schien die normalste Sache von der Welt zu sein. Alles, was Fionnuala getan hatte, war, ihre Hand auszustrecken und einen großen Apfel vom Stand zu nehmen, ihn anzuschauen und ihn zurückzulegen. Das war nichts Merkwürdiges. Der junge Franzose sprach mit dem Standbesitzer. Fionnuala stand noch einen Moment da, dann ging sie weg. Una holte sie ein.
»Mir ist langweilig, Una«, sagte Fionnuala. »Lass uns zum Quai gehen.«
»Einverstanden.«
»Hast du gesehen, was ich habe?« Sie schaute Una mit einem leicht schelmischen Lächeln an. »Einen schönen saftigen Apfel.« Sie griff in ihre Bluse und zog ihn hervor.
»Wo hast du den her?«
»Vom Stand.«
»Aber du hast ihn nicht bezahlt.«
»Ich weiß.«
»Fionnuala! Bring ihn sofort zurück.«
»Ich kann nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich es nicht will.«
»Um Himmels willen, Fionnuala! Du hast ihn gestohlen.«
Fionnuala riss ihre grünen Augen auf. Wenn sie es sonst tat und dazu eine lustige Grimasse schnitt, musste man unwillkürlich lachen. Doch dieses Mal lachte Una nicht. Jemand könnte den Diebstahl beobachtet haben. In Gedanken sah sie schon den Standbesitzer auf sie zulaufen und den herbeigerufenen Ailred.
»Gib ihn mir. Ich lege ihn zurück.«
Langsam und bedächtig, die Augen noch immer weit aufgerissen mit dem gespielten ernsten Blick, hob Fionnuala den Apfel, als wollte sie ihn Una reichen; doch statt ihn ihr zu geben, biss sie seelenruhig hinein. Mit spöttisch ernstem Blick fixierte sie Una.
»Zu spät.«
Una machte auf dem Absatz kehrt. Sie ging direkt auf den Stand zu, wo der Obsthändler gerade sein Gespräch mit dem Franzosen beendet hatte, und nahm einen Apfel.
»Wie viel kosten zwei? Meine Freundin hat ihren bereits angebissen.« Sie lächelte freundlich und deutete auf Fionnuala, die hinter ihr herkam. Der Obsthändler lächelte sie beide an.
»Ihr arbeitet doch im Hospiz?«
»Ja.« Fionnuala schaute ihn mit ihren großen Augen an.
»In Ordnung. Ich gebe sie euch umsonst.«
Una dankte ihm und führte ihre Freundin weg.
»Er hat sie uns geschenkt.« Fionnuala warf Una einen Seitenblick zu.
»Aber das ist nicht der Punkt, und das weißt du«, sagte Una. »Eines Tages bring’ ich dich um, Fionnuala.«
»Das wäre schlecht. Liebst du mich denn nicht?«
»Auch das ist nicht der Punkt.«
»Doch, ist es wohl.«
»Du kennst nicht den Unterschied zwischen richtig und falsch, Fionnuala, und du wirst ein schlimmes Ende nehmen.«
Fionnuala schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Ich denke, so wird es sein.«
* * *
Zum Glück ahnte Fionnualas Vater nichts von ihrem Verhalten, da es ihm ansonsten einen äußerst angenehmen Morgen verdorben hätte. Denn zur selben Zeit, als die beiden Mädchen den Marktplatz mit den Äpfeln verließen, ging der bedeutende Kirchenmann würdigen Schrittes zu jener Herberge, in der sein Sohn Gilpatrick nun lebte. Er war ernst, denn sie mussten eine wichtige Familienangelegenheit besprechen. Die Sache selbst war jedoch nicht unerfreulich, der Morgen war schön und sonnig, und er freute sich darauf, Gilpatrick zu sehen. Darum hob er, als er in Sichtweite seines Sohns kam, seinen Stab zu einem feierlichen, aber herzlichen Gruß.
Die Herberge von Sankt Kevin war eine kleine Einfriedung mit einer Kapelle, einem Schlafsaal und einigen bescheidenen Holzhäusern, die nur zweihundert Meter südlich vom alten Kloster der Familie lag. Sie gehörte den Mönchen von Glendalough, die sie nutzten, wenn sie Dublin besuchten; und Gilpatrick hatte hier in den letzten zwei Jahren oft gewohnt. Er stand am Tor, und als er nun seinen Vater näher kommen sah, ging er auf ihn zu.
Doch war da nicht etwas in seinem Verhalten, ein Zögern, das ahnen ließ, dass er sich nicht so sehr auf seinen Vater freute, wie er eigentlich sollte?
»Freust du dich denn nicht, mich zu sehen, Gilpatrick?«, fragte ihn Conn.
»Oh, doch. Natürlich. Aber ja.«
»Das ist gut«, meinte sein Vater. »Lass uns ein Stück gehen.«
Sie schlugen den Weg nach Norden ein, der in einer sanften Biegung am alten Klostergelände der Familie vorbeiführte, bis er am dunklen Teich vorbei zum Thingmount und nach Hoggen Green führte.
Diesen Weg mit seinem Vater zu gehen, dachte Gilpatrick, hatte immer etwas von einem königlichen Schreiten. Die Leute lächelten und verneigten sich voll Respekt und Zuneigung, sobald sie seinen Vater kommen sahen, und dieser erwiderte ihren Gruß wie ein echter Stammesführer aus alten Zeiten.
Und tatsächlich genoss Conn jetzt ein höheres Ansehen als je ein Oberhaupt der Ui Fergusa zuvor. Seine Mutter war die Letzte der Caoilinn–Familie gewesen, der die Ländereien in Rathmines gehörten. Durch seine Mutter waren die beiden Stränge der Abkömmlinge des Fergus wieder vereint worden, und er hatte das Blut des alten Königshauses von Leinster geerbt. Seine Mutter hatte nicht nur den alten Trinkschädel der Familie mit in die Ehe gebracht, sondern als Mitgift auch einige dieser wertvollen Rathmines Ländereien. Durch seine eigene Heirat mit einer Verwandten von Lawrence O’Toole hatte er sich mit einem der edelsten Fürstenhäuser von Nord–Leinster verbunden. Die Wikinger mochten zwar durch ihre Ansiedlung Fergus’ letzten Ruheplatz in Besitz genommen haben und die Kirche mochte auf viele alte Weiden in der Region vorgedrungen sein, doch das augenblickliche Oberhaupt der Ui Fergusa konnte noch immer sein Vieh über einen breiten Landstrich an der Küste entlang zu den Wicklow–Bergen treiben. Und da die Familie außerdem seit Generationen über das kleine Kloster herrschte, kam ihren Oberhäuptern eine sakrale Rolle zu. Obgleich das kleine Kloster aufgelöst und seine Kapelle in eine Pfarrkirche umgewandelt worden war, war Gilpatricks Vater noch immer der Vikar.
»Hast du je wieder von deinem Freund FitzDavid gehört?«, fragte Conn nun.
Anfangs war Gilpatrick ein wenig enttäuscht gewesen, dass er nie eine Nachricht von Peter FitzDavid bekommen hatte, und mit der Zeit hatte er ihn fast vergessen. Vielleicht war er getötet worden.
König Diarmait und sein ausländisches Heer waren nur langsam vorgerückt. Der Hochkönig O’Connor und O’Rourke waren nach Wexford gereist, um mit ihm zu verhandeln. Es hatte zwei Scharmützel gegeben, doch keine Entscheidungsschlacht. Diarmait war gezwungen worden, dem Hochkönig Geiseln zu geben und O’Rourke für den Raub seiner Frau eine beträchtliche Menge Feingold zu zahlen. Es wurde ihm erlaubt, ins Land seiner Väter im Süden Irlands zurückzukehren, doch das war auch schon alles. Ein Jahr lang war er dort geblieben, und niemand hatte ein Sterbenswörtchen von ihm gehört.
Letztes Jahr war es ihm jedoch gelungen, ein weiteres, größeres Truppenkontingent zusammenzustellen – dreißig berittene Männer, etwa hundert Waffenmänner und über dreihundert Bogenschützen. Darunter waren einige Ritter aus berühmten Familien, so etwa ein FitzGerald, ein Barri und sogar ein Onkel von Strongbow. Fitzgerald und seinem Bruder war die Hafenstadt Wexford gegeben worden, was die ostmännischen Händler dort wohl kaum erfreut haben dürfte; und dank der Vermittlung des Dubliner Erzbischofs O’Toole hatte der Hochkönig einem neuen Abkommen zugestimmt.
»Schick mir deinen Sohn als Geisel«, hatte er zu Diarmait gesagt, »und du kannst – natürlich unter Ausschluss von Dublin – ganz Leinster haben.« Im Stillen hatte er hinzugefügt: »Wenn du es kriegen kannst«. Diarmait hatte außerdem versprechen müssen, dass er, sollte er Leinster erst eingenommen haben, alle seine Fremden über das Meer zurückschicken würde.
Doch all dies hatte sich vor einem Jahr zugetragen, und Diarmait hatte sich noch immer nicht in den nördlichen Teil der Provinz gewagt. »Du hast dort keine Freunde«, hatte man ihm eindringlich gesagt.
»Ich bezweifle«, bemerkte nun Gilpatricks Vater, »dass du deinen Waliser bald wieder siehst.« Sie gingen die Biegung des Wegs oberhalb des Teichs entlang und schauten hinunter auf das alte Gräberfeld. Eine erfreuliche Aussicht, dachte Gilpatrick. Denn in früheren Zeiten war das Ufergelände von Hoggen Green völlig kahl gewesen, und die Geister der Toten hatten vielleicht fast zu viel Freiheit gehabt, nach Gutdünken herumzuwandern; doch nun hatte die Kirche ihre eigenen Heiligtümer neben diesem Ort errichtet, die die Geister mit unsichtbaren Schranken umfingen. Zur Linken, genau jenseits des Teichs vor der Stadtmauer, lag die kleine Sankt Andrew–Kirche, um die vereinzelte Holzhäuser standen. Zur Rechten, ein wenig über dem Thingmount, lag das einzige Nonnenkloster der Stadt.
»Wahrscheinlich sollte ich deine Schwester dorthinein stecken«, sagte sein Vater.
»Sie würden sie nicht dabehalten«, entgegnete Gilpatrick mit einem Lächeln.
Wäre doch nur seine widerspenstige Schwester Gegenstand des Gesprächs, dann wäre es ganz leicht gewesen. Das wahre Thema des Tages war jedoch noch nicht erwähnt worden; sie waren auf das alte Gräberfeld gegangen und schon fast am Thingmount angelangt, als sein Vater es schließlich ansprach.
»Es wird Zeit, dass dein Bruder heiratet«, sagte er.
Diese Bemerkung war nur scheinbar harmlos. Bis zum letzten Jahr war Gilpatrick mit zwei Brüdern gesegnet gewesen. Sein älterer Bruder, der einige Jahre lang verheiratet gewesen war, lebte einige Meilen weiter an der Küste und bewirtschaftete den großen Landstrich der Familie. Er hatte seinen Hof geliebt und war nur selten nach Dublin gekommen. Doch zu Anfang des letzten Winters hatte er sich auf der Rückreise von Ulster stark verkühlt, bekam Fieber und starb. Seine Witwe war nun mit den beiden Töchtern allein. Sie war eine angenehme junge Frau, und die Familie mochte sie. »Sie ist ein Schatz«, meinten alle übereinstimmend. Sie war erst dreiundzwanzig Jahre alt, und natürlich sollte sie wieder heiraten. »Doch es wäre schrecklich schade, sie zu verlieren«, wie Gilpatricks Vater ganz richtig gesagt hatte.
Und nun, sechs Monate nach dem traurigen Ereignis, hatte sich von selbst eine Lösung ergeben, die alle zufrieden zu stellen versprach. Letzte Woche war Gilpatricks jüngerer Bruder Lorcan, der immer auf dem Hof des ältesten Bruders gearbeitet hatte und noch unverheiratet war, nach Dublin gekommen. Er sagte dem Vater, er wolle die Witwe seines Bruders heiraten.
»Ich könnte nicht glücklicher sein, Gilpatrick«, sagte sein Vater. »Sie warten, bis das Jahr vorbei ist. Und dann werden sie mit meinem Segen heiraten. Und mit deinem hoffentlich auch.«
Gilpatrick atmete tief durch. Er hatte sich auf dieses Thema vorbereitet. Seine Mutter hatte ihm zwei Tage zuvor davon erzählt.
»Du weißt sehr gut, dass ich das nicht kann«, entgegnete er nun.
»Meinen Segen haben sie«, wiederholte sein Vater scharf.
»Aber du weißt doch«, erwiderte Gilpatrick, »dass es unmöglich ist.«
»Nein«, erwiderte Conn. »Du weißt selbst«, fuhr er in versöhnlichem Ton fort, »dass die beiden sehr gut zusammenpassen. Sie sind gleich alt. Sie sind bereits die besten Freunde auf der Welt. Sie war seinem Bruder eine wundervolle Frau und wird es auch ihm sein. Sie liebt ihn, Gilpatrick. Sie hat es mir selbst gestanden. Und er ist ein anständiger junger Mann, stark wie eine Eiche. Ein ebenso guter Mann wie sein Bruder einer gewesen ist. Es kann keinen vernünftigen Grund gegen diese Ehe geben.«
»Außer«, sagte Gilpatrick mit einem Seufzer, »dass sie die Frau seines Bruders ist.«
»Eine Ehe, die die Bibel erlaubt«, meinte der Vater ärgerlich.
»Eine Ehe, die die Juden erlauben«, verbesserte ihn Gilpatrick geduldig. »Der Papst jedoch keinesfalls.«
Das Buch Leviticus legte es dem pflichtbewussten Mann auf, die Witwe seines Bruders zu heiraten. Die mittelalterliche Kirche jedoch hatte entschieden, dass eine solche Ehe gegen kanonisches Recht verstieß, und in der gesamten Christenheit waren solche Ehen verboten. Außer in Irland.
Gilpatrick sah seinen Vater liebevoll an. Halb erbliches Oberhaupt, halb Druide, war er ein typischer Gemeindepriester. Er war verheiratet, hatte Kinder, war aber noch immer Priester. Diese traditionellen Arrangements reichten bis hin zu seinen kirchlichen Einkünften. Die Ländereien, die seine Familie in früheren Zeiten dem Kloster gestiftet hatte – und Conn hatte den wertvollen Grund von Rathmines noch dazugestiftet waren an den Pfarrbezirk gegangen, und so gehörten sie nun verwaltungstechnisch zum Erzbistum Dublin. Doch als Pfarrpriester bekam sein Vater alle Erträge aus diesen Ländereien, ebenso wie die von den großen Grundstücken an der Küste. Zur gegebenen Zeit würde Gilpatrick seine Nachfolge als Priester antreten, und aller Wahrscheinlichkeit nach würde ihm wiederum eines der Kinder seines Bruders nachfolgen, vorausgesetzt, aus dieser nicht–kanonischen Ehe gingen Söhne hervor. So war der Brauch in allen Kirchen und Klöstern in ganz Irland.
Und natürlich war es ein Skandal. Oder zumindest dachte der Papst in Rom, es sei einer.
Während des letzten Jahrhunderts war nämlich ein Sturm an Veränderungen über das westliche Christentum hinweggefegt. Man hatte gespürt, dass die alte Kirche zu reich, zu weltlich geworden war und es ihr an Spiritualität und leidenschaftlichem Engagement mangelte. Mit einem Mal entstanden neue klösterliche Orden, die sich wie die Zisterzienser zu Einfachheit verpflichteten. Neue Kreuzzüge wurden unternommen, um das Heilige Land von den Sarazenen zurückzugewinnen. Päpste dachten daran, die Kirche zu läutern und ihre Machtbefugnis auszuweiten, wollten sogar Königen zwingende Befehle auferlegen.
»Du musst zugeben, Vater«, erinnerte ihn Gilpatrick sanft, »dass die Kirche in Irland mit der unserer Nachbarn nicht mithalten kann.«
»Ich wollte, ich hätte dich nie nach England gehen lassen«, entgegnete sein Vater düster.
Eine ganze Reihe irischer Kirchenmänner hatte einige Zeit m großen englischen Klöstern wie Canterbury und Worcester zugebracht. Es gab zahlreiche kirchliche Kontakte. Tatsächlich waren sogar die Bischöfe von Dublin eine Zeit lang nach England gegangen, um sich vom Bischof von Canterbury weihen zu lassen. »Obwohl sie es nur getan haben«, hatte Gilpatricks Vater mit einigem Recht bemerkt, »um zu zeigen, dass Dublin sich vom übrigen Irland unterschied.« Ergebnis war, dass nun viele führende Kirchenleute in Irland ein Gespür dafür hatten, dass sie mit der restlichen Christenheit nicht im Einklang waren und sie deshalb etwas unternehmen sollten.
»Jedenfalls«, fuhr der alte Mann gereizt fort, »wurde die irische Kirche bereits reformiert.«
Bis zu einem gewissen Punkt war das richtig – die Verwaltung der irischen Kirche war sicherlich modernisiert worden. Und schließlich zahlten nun viele Dubliner Pfarrgemeinden der Kirche Steuern, den so genannten Zehnten.
»Wir haben einen Anfang gemacht«, sagte Gilpatrick. »Aber es bleibt noch viel zu tun.«
»Du findest, meine Stellung müsse reformiert werden?«
»Es wäre schwierig, sie außerhalb Irlands zu verteidigen«, sagte Gilpatrick ruhig.
»Bisher hat der Erzbischof keine Einwände erhoben.«
»Das stimmt, Vater«, erwiderte nun Gilpatrick. »Und solange der Erzbischof keine Einwände erhebt, werde ich kein Wort dazu sagen.«
Sein Vater schaute ihn an. Auf den ersten Blick wirkte Gilpatrick versöhnlich. War seinem Sohn bewusst, fragte sich Conn, wie gönnerhaft diese Antwort war? Er spürte einen Anflug von Ärger. Sein Sohn tolerierte seine Stellung als Priester nur so lange, bis der Erzbischof sie in Frage stellte. Dies beleidigte ihn, die Familie und ganz Irland. Er fühlte sich, als müsse er um sich schlagen.
»Allmählich verstehe ich, was du dir für die Kirche wünschst, Gilpatrick«, sagte sein Vater mit gefährlicher Freundlichkeit.
»Und was ist das, Vater?«
Der alte Mann blickte ihn kalt an. »Noch einen englischen Papst.«
Gilpatrick zuckte zusammen, zwar nur unmerklich, aber viel sagend. Die katholische Kirche hatte im letzten Jahrzehnt zum ersten und einzigen Mal in ihrer langen Geschichte einen englischen Papst gehabt. Hadrian IV. war nicht sonderlich bemerkenswert, doch zumindest für die Iren hatte er etwas getan, so dass er ihnen in Erinnerung blieb.
Er hatte einen Kreuzzug gegen Irland empfohlen.
Dies war kurz nach seinem Amtsantritt, als König Heinrich II. von England eine Invasion der westlichen Insel in Betracht gezogen hatte. Papst Hadrian hatte, entweder um dem englischen König eine Freude zu machen oder weil er von Heinrichs Gesandten über den Zustand der irischen Kirche falsch unterrichtet worden war, einen Brief geschrieben, in dem er dem englischen König mitteilte, er erfülle einen nützlichen Dienst, wenn er die Insel einnehme, da er »die christliche Religion mehre«.
»Was kann man von einem englischen Papst erwarten?«, hatten Männer wie Gilpatricks Vater gefragt. Doch obwohl Papst Hadrian sein Leben längst ausgehaucht hatte, war sein Brief noch immer in schmerzlicher Erinnerung. »Wir, die Erben des Sankt Patrick, wir, die wir den christlichen Glauben und die Schriften des alten Rom lebendig gehalten haben, als der größte Teil der Welt unter die Barbaren fiel, wir, die wir den Sachsen ihre Bildung gegeben haben, sollen uns von den Engländern eine Lektion in Christentum erteilen lassen?« So ereiferte sich Gilpatricks Vater jedes Mal, wenn das Thema aufkam.
Papst Hadrians Brief war natürlich ein Frevel gewesen; das wollte Gilpatrick nicht in Abrede stellen. Aber das war nicht wirklich der Punkt. Das wahre Problem war umfassender.
»Du sprichst so, als gäbe es so etwas wie eine unabhängige irische Kirche, Vater. Aber es gibt doch nur eine Kirche, und die ist universal. Das ist ihre große Stärke. Der Papst, der Nachfolger des heiligen Petrus, beherrscht die ganze Christenheit unter dem Himmel. Es darf nur eine einzige wahre Kirche geben. Es kann nicht anders sein.«
»Etwas möchte ich dich jetzt mal fragen«, sagte der Vater. »Hast du eine Abschrift von Papst Hadrians Brief gesehen, in dem er dem König sagt, er solle ruhig nach Irland kommen?«
»Ich glaube, ja.« Der Brief war weit und breit bekannt geworden.
»Welche Bedingung stellt der Papst? Was muss der König von England tun, um einen Segen für seine Eroberung zu erhalten? Es wird nicht nur ein Mal, sondern zwei Mal erwähnt«, sagte er grimmig.
»Nun ja, da ist die Steuerfrage, natürlich…«
»Ein Penny soll von jedem Haushalt im Land erhoben und jedes Jahr nach Rom geschickt werden. Der Petrusgroschen!«, schrie der alte Mann. »Das Geld wollen sie, Gilpatrick. Das Geld.«
»Vater, es ist doch nur recht und billig, dass…«
»Petrusgroschen!« Der alte Mann hob die Hand und schaute seinen Sohn so erzürnt an, dass Gilpatrick sich beinahe vorstellen konnte, ein graubärtiger Druide aus der Vorzeit mache ihm Vorhaltungen. »Petrusgroschen.«
Wenig später standen sie beide vor dem Thingmount, wo Fergus begraben lag, und der Alte deklarierte feurig: »Du wirst zu Lorcans Hochzeit kommen, Gilpatrick, denn er ist dein Bruder, und er wäre sehr enttäuscht, wenn du nicht kämst. Du wirst kommen, weil ich es dir befehle. Verstehst du mich?«
»Vater, ich kann nicht. Nicht, wenn er die Frau meines Bruders heiratet.«
»Dann musst du dir nicht die Mühe machen«, schrie Conn, »noch einmal mein Haus zu betreten.«
»Sicher, Vater…«, hob Gilpatrick an. Doch Conn hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und stapfte davon. Gilpatrick wusste, dass es sinnlos war, ihm hinterherzugehen. Eine Woche später wurde die Hochzeit verkündet. Gefeiert wurde sie im Juni, und Gilpatrick war nicht dabei. Als er im Juli seinen Vater an der Pforte der Christ Church sah, ging er auf ihn zu; doch Conn drehte sich um, als er ihn auf sich zukommen sah; und nach einem kurzen Zögern entschied Gilpatrick, ihm nicht zu folgen. Der August verging, ohne dass sie miteinander sprachen. Der September brach an.
Und dann gab es andere, dringendere Dinge, über die nachgedacht werden musste.
* * *
Es war noch ruhig, als Kevin MacGowan an diesem grauen Septembermorgen aufwachte. Seine Frau war schon auf den Beinen; vom Ofen im Hof drang der zarte Duft von frisch gebackenem Brot. Das Sklavenmädchen fegte am Tor. Die beiden Jungen spielten im Hof. Durch die offene Tür konnte er ihren dampfenden Atem sehen. Es war Herbst geworden in Dublin. Die Morgenluft war kalt.
Wie immer griff er unwillkürlich unters Bett und tastete nach der Kassette. Es war beruhigend, sie dort zu wissen. Er hatte sie gern nah bei sich, wenn er schlief. Eine andere Stelle, wo er sie oft versteckte, war unter dem Brotbackofen. Nur seine Frau und Una wussten davon. Es war ein gutes Versteck. Selbst wenn man hundert Mal hinsah, würde man nie darauf kommen, dass sich dort ein Versteck befand. Doch nachts, wenn er im Haus schlief, verwahrte er die Kassette unter seinem Bett.
Er schaute sich im Zimmer um. In der hinteren Ecke entdeckte er im Halbdunkel eine andere Gestalt, die ihn strahlend ansah. Es war Una. Normalerweise wäre sie im Hospiz, doch heute wollte sie lieber zu Hause bei ihrer Familie bleiben. Sie richtete sich auf. Er lächelte. Konnte sie sein Lächeln im Halbdunkel erkennen? Er war sich nicht sicher, ob sie wusste, wie glücklich ihn ihre Anwesenheit machte. Wahrscheinlich nicht. Und wahrscheinlich war es besser, dass sie es nicht wusste. Man durfte seinen Kindern nicht zu viel Zuneigung aufbürden.
Er stand auf, ging zu ihr und küsste sie auf den Kopf. Als er sich umdrehte, spürte er eine leichte Enge in der Brust und hustete ein bisschen. Dann ging er zur Tür und schaute hinaus. Es würde bestimmt kalt werden.
Er blickte zum Tor. Es ging gerade ein Nachbar mit einem Holzkübel voll Wasser vom Brunnen vorbei. Der Mann hatte es offenbar nicht eilig. Er lauschte. Ein paar Spatzen zwitscherten in den Ästen des Apfelbaums im Nachbarhof. Er hörte eine Amsel. Ja, alles schien normal zu sein. Kein Hinweis auf einen Aufruhr.
Strongbow. Niemand hätte gedacht, dass er wirklich kommen würde. Sein Onkel und die FitzGeralds hatten den ganzen Sommer unten im Süden verbracht, also hatten die Dubliner angenommen, sie würden auch den Rest des Jahres dort bleiben. Doch dann hatte sie in der letzten Augustwoche die Nachricht erreicht: »Strongbow ist in Wexford. Er ist mit englischen Truppen gekommen. Mit vielen Truppen.«
Zweihundert komplett ausgerüstete Männer zu Pferde und tausend Fußsoldaten, um genau zu sein. Die meisten waren auf den riesigen Besitzungen der Familie in England eingezogen worden. Eine solche Streitmacht konnte nur einer der größten Magnaten des Plantagenets–Reich zusammengestellt haben. Gemessen am Standard des feudalen Europas war es ein kleines Heer. Für irische Verhältnisse jedoch bedeuteten die Ritter in ihren Rüstungen, die hoch trainierten Waffenmänner und Bogenschützen, die mit mathematischer Genauigkeit schossen, eine disziplinierte Kriegsmaschinerie, die ihre Möglichkeiten übertraf.
Innerhalb weniger Tage kam die Nachricht, auch die Hafenstadt Waterford sei in Strongbows Hand; und dann, König Diarmait gebe Strongbow seine Tochter zur Frau. Und kurz darauf hieß es: »Sie kommen nach Dublin.«
Es war eine Schmach. Der Hochkönig hatte Diarmait erlaubt, Leinster einzunehmen; mit Dublin verhielt es sich jedoch anders, denn es war von dieser Vereinbarung definitiv ausgenommen. »Wenn Diarmait Dublin will, dann hat er die Absicht, ganz Irland einzunehmen«, urteilte der O’Connor–Hochkönig. »Und gab er mir nicht seinen eigenen Sohn zum Unterpfand?« Sollte Diarmait unter solchen Umständen seinen Eid brechen, hatte O’Connor nach irischem Gesetz das Recht, mit dem Jungen zu tun, was er wollte, ja, er durfte ihn sogar töten. »Was ist das für ein Mann«, rief O’Connor, »der seinen eigenen Sohn opfert?«
Es war an der Zeit, den Plänen dieses ungestümen Abenteurers und seiner ausländischen Freunde Einhalt zu gebieten.
An der Gefühlslage der Dubliner gab es auch keinen Zweifel. Drei Tage zuvor hatte MacGowan beobachtet, dass der König von Dublin und einige der bedeutendsten Kaufleute dem Hochkönig, der an die Liffey kam, entgegenritten, um ihn zu empfangen. Es hieß, sogar der Erzbischof wäre empört über Diarmait, obwohl die beiden verschwägert waren. Der O’Connor–König hatte ein großes Heer mitgebracht; und rasch trafen sie die Absprache, die Dubliner sollten sich auf die Verteidigung ihrer Stadt vorbereiten, während der Hochkönig eine Tagesreise nach Süden machen und auf der Liffey–Ebene den Anmarsch blockieren würde. Einen Tag später hörte MacGowan, dass O’Connor nicht nur die Straße belagerte, sondern Befehl gegeben habe, Bäume zu fällen, um jeden Weg in der Region unpassierbar zu machen. Dublin rüstete sich, doch die einhellige Meinung war klar: König Diarmait würde ihnen selbst mit Strongbow und all seinen Männern kein Problem bereiten. »Sie werden es nicht schaffen.«
Kevin MacGowan arbeitete außer an den kältesten Wintertagen, wenn er sich ins Haus zurückziehen musste, immer in einem offenen Schuppen im Hof. So konnte er bei Tageslicht sehen, was er tat. Um warm zu bleiben, hatte er eine kleine Kohlenpfanne zu seinen Füßen. Seine Frau und Una spannen in einer Ecke am Ofen Wolle.
Ein Kaufmann kam herein, um über eine Silberbrosche für seine Frau zu sprechen. Kevin fragte ihn, ob alles ruhig sei in der Stadt, und die Antwort war ja. Nach einer Weile verabschiedete sich der Mann, und Kevin setzte seine Arbeit schweigend fort. Dann unterbrach er sie.
»Una.«
»Ja, Vater.«
»Geh zur südlichen Stadtmauer ans Haupttor. Und sag’ mir, ob du etwas siehst.«
»Könnte nicht einer der Jungen gehen? Ich helfe Mutter.«
»Mir wäre lieber, dass du gehst.« Er vertraute ihr mehr als den Jungen.
Sie schaute zu ihrer Mutter, die lächelte sie an und nickte.
»Wie du wünschst, Vater«, sagte sie. Sie legte sich einen safrangelben Schal um den Kopf, der sie vor der Kälte schützen sollte, und ging hinaus auf die Straße.
Sie war froh, zu Hause zu sein. Vielleicht hatte sie zu viel Zeit mit den Kranken im Hospiz verbracht, denn sie hatte den Eindruck, ihr Vater fühle sich in letzter Zeit nicht vollkommen gesund. Normalerweise hätte sie an diesem Tag fleißig im Hospiz gearbeitet, doch Fionnuala hatte sich einverstanden erklärt, ihre Aufgaben mit zu übernehmen. Sie hatte den Eindruck, Fionnuala doch noch davon überzeugt zu haben, eine verantwortlichere Haltung zum Leben einzunehmen; und darauf war sie mächtig stolz.
Auf ihrem Weg begegnete ihr nichts Ungewöhnliches. Die Leute gingen ihrer Arbeit nach. Sie lief an einem mit Holz beladenen Karren vorbei und hatte gerade die Sachsenkirche erreicht, als sie von der nahen Königshalle Hufgetrappel hörte und ein Dutzend Reiter auf sie zukamen. Vorneweg ritt der König. Sie sah, dass keiner der Männer zu Pferde für den Kampf gekleidet war, auch wenn ein oder zwei eine Wikinger–Streitaxt trugen, die unterdessen in weiten Teilen Irlands eine bevorzugte Waffe geworden war. Der König sowie die anderen Reiter hatten nur einen Dolch im Gürtel stecken.
Als sie sich an den Holzzaun lehnte, um die Reiter passieren zu lassen, lächelte der König zu ihr hinab. Er war ein stattlicher, freundlich aussehender Mann, und er wirkte nicht im Geringsten beunruhigt.
Als sie auf die Stadtmauer stieg, war sie ganz allein. Trotz des grauen Himmels war es ein heller Tag. Hinter den Feldern und Obstgärten im Süden zeichneten sich die gerundeten Buckel der Wicklow–Berge so deutlich ab, dass sie zum Greifen nahe schienen. Sie war ein wenig überrascht, keine Späher auf der Stadtmauer postiert zu sehen. Das Tor neben ihr stand offen. Links in der Ferne sah sie ein Schiff, das in die Flussmündung hineinschwenkte. Im Hafen war es in letzter Zeit besonders geschäftig zugegangen. Alles schien normal zu sein.
Kevin saß bei der Arbeit, als sie heimkam. Kurz zuvor hatte er gemeint, er müsste husten, und war ins Haus gegangen; doch nun war es vorüber. Er lächelte, als Una zurückkam und ihm berichtete, alles sei ruhig.
Am späten Vormittag ließ der Silberschmied das Stück, an dem er arbeitete, sinken und lauschte. Er sagte kein Wort, saß nur ganz still da. Stimmte etwas nicht? Nichts, auf das er den Finger legen konnte. Hörte er etwas Ungewöhnliches? Nein. Doch noch immer saß er verdutzt da. Seine Frau schaute ihn an.
»Was ist?«
»Ich weiß es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Nichts.«
Er begab sich wieder an die Arbeit, doch schon wenig später legte er sie erneut beiseite. Wieder war das Gefühl in ihm aufgestiegen. Eine sonderbare Wahrnehmung. Ein Gefühl von Kälte. Als wäre nur knapp neben ihm ein Schatten vorbeigegangen.
»Ja, Vater?«
»Geh noch einmal zur Stadtmauer.«
»Ja, Vater.« Sie war doch ein gutes Mädchen. Nie ein Wort der Klage. Sie war die Einzige, der er ganz und gar vertraute.
Obwohl sich ihr derselbe Ausblick von der Mauer bot wie zuvor, kehrte Una nicht umgehend heim. Sie hatte gemerkt, dass ihr Vater beunruhigt war. Daher beobachtete sie eine Weile den Horizont im Südwesten, wo der Liffey–FIuss sich auf die Stadt zuwindet. Wirbelte da Staub auf, blitzte da eine Rüstung, gab es irgendeinen Hinweis auf eine Bewegung? Nein, nichts. Endlich beruhigt, beschloss sie, zurückzugehen. Sie schaute auf die Flussmündung, warf einen letzten flüchtigen Blick auf die Wicklow–Berge, und plötzlich sah sie die Reiter.
Sie quollen aus den Hügeln hervor wie ein Bergbach. Sie strömten aus einem schmalen Tal, das zu den bewaldeten Hügeln im Süden führte, und ergossen sich über die Hänge bei dem Dörfchen Rathfarnham, das nur vier Meilen entfernt lag. Una sah die Kettenhemden unzähliger Ritter aufblitzen. Massen von Soldaten, die in drei Kolonnen marschierten, folgten ihnen. Aus der Entfernung sahen die Kolonnen wie drei riesige Tausendfüßler aus, vermutlich Bogenschützen.
Plötzlich begriff sie, was geschehen war. Diarmait und Strongbow waren über die Berge gekommen statt durch das Liffey–Tal. Sie waren dem Hochkönig perfekt entwischt. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dies das ganze Heer. In einer Viertelstunde würde es Rathmines erreicht haben. Einen Augenblick beobachtete sie den Anmarsch mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen; dann rannte sie nach Hause.
Es war überflüssig, dass Una Alarm schlug. Auch andere Dubliner hatten inzwischen die Armee auf den Hängen entdeckt. Leute rannten durch die Straßen. Bis Una das Tor ihres Elternhauses erreichte, hatte die Familie bereits das Geschrei vernommen; und in wenigen Augenblicken hatte sie alles, was sie gesehen hatte, berichtet. Die Frage war nur: Was sollten sie jetzt tun?
Die Straße, in der sie wohnten, führte zu den Fish Shambles. Sie lagen nicht weit entfernt von den Quais. Als Una wieder auf die Straße lief, um zu hören, ob es weitere Neuigkeiten gab, entdeckte sie, dass der Nachbar eine Handkarre belud. »Wenn es irgend geht, will ich auf ein Schiff«, sagte er. »Ich will nicht hier sein, wenn die Engländer kommen.« Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lebte ein Schreiner. Er hatte bereits eine Barrikade um sein Haus herum hochgezogen. Er glaubte offenbar, durch seiner Hände Arbeit eine Armee abwehren zu können.
Die MacGowans waren zögerlich. Der Vater hatte seine Kassette verschlossen, und die Mutter hatte ein paar Dinge in ein Tuch gewickelt, das sie sich auf den Rücken gebunden hatte. Die beiden Jungen und der Lehrjunge standen neben ihr, und das englische Sklavenmädchen wollte eher mit ihnen gehen, als von ihren Landsleuten befreit zu werden.
Kevin MacGowan hatte es schon immer gehasst, Risiken einzugehen. Deshalb hatte er sich stets bemüht, für alle Eventualitäten, die seine kleine Familie bedrohen könnten, einen Plan zu entwerfen. Das Verhalten des Schreiners mochte absurd sein, und die Absicht seines Nachbarn, zu den Quais zu gehen, schien ihm einer voreiligen Panik zu entspringen. Es war unwahrscheinlich, dass König Diarmait, selbst mit seinen englischen Alliierten, die gemauerten Schutzwälle durchdringen könnte. Das allerdings würde Belagerung bedeuten –Tage oder Wochen des Wartens und im Notfall viel Zeit, die Stadt von den Quais aus zu verlassen. Alles in allem, dachte der Silberschmied, sei es nicht klug, jetzt zum Ufer zu eilen. Weniger leicht war die Frage, was er mit der Kassette tun sollte. Er mochte die Mönche in der Christ Church nicht belästigen, bis ein triftiger Grund vorlag. Sollte es zur Belagerung kommen, würde er wohl Weiterarbeiten; also müsste er ohnehin einige wertvolle Stücke im Haus aufbewahren. Und müsste die Familie fliehen, würde er vielleicht etwas von seinem Silber mitnehmen wollen und den Rest in der Kassette in der Christ Church zurücklassen. Es würde von den Umständen abhängen.
»Geh zu den Fish Shambles, Una«, wies er sie an. »Finde heraus, was vor sich geht.«
Auf der abschüssigen Marktstraße drängten sich die Menschen; sie rannten in alle Richtungen, manche zu den Quais, andere hinauf zur Christ Church. Una hielt einige Leute an, doch niemand schien zu überblicken, was wirklich geschah; und als sie gerade überlegte, was sie wohl tun solle, sah sie Vater Gilpatrick rasch auf sich zukommen. Sie kannten sich flüchtig, und er nickte ihr freundlich zu. Una bat ihn um Rat.
»Der Erzbischof reitet gerade hinaus, um mit ihnen zu sprechen«, erzählte er ihr. »Er ist fest entschlossen, jedes Blutvergießen zu vermeiden. Ich reite ihm jetzt hinterher.«
Als sie mit dieser Nachricht zurückkehrte, grübelte Kevin MacGowan. Die Chancen standen offenbar gut. Was man auch immer über den Erzbischof dachte, selbst König Diarmait würde wohl kaum seinen frommen Schwager abweisen.
»Wir können ein Weilchen abwarten und sehen, was geschieht«, sagte er zu seiner Familie. »Una, du gehst besser zurück zur Stadtmauer. Lass uns sofort wissen, wenn etwas Neues passiert.«
Der Anblick, der sich ihr bot, als sie diesmal zur Mauer kam, war ein Schock. Die vorderste Kampflinie war nur noch dreihundert Meter entfernt. Sie konnte sogar die Gesichter, die finster zur Stadtmauer blickten, erkennen. Abteilungen von Rittern, Soldaten und Bogenschützen hatten offenbar die ganze Stadtmauer umstellt.
Genau eine Viertelmeile vor ihr die Hauptstraße hinunter sah sie Erzbischof O’Toole. Er saß nach irischer Sitte, ohne Sattel, auf einem kleinen grauen Pferd. Hinter ihm waren einige andere Kirchenleute, darunter auch Gilpatricks Vater. Der Erzbischof war mit einem bärtigen Mann, von dem sie annahm, es sei König Diarmait, und mit einem großen Mann, der einen langen Schnurrbart und einen unbewegten Gesichtsausdruck hatte, ins Gespräch vertieft. Das musste Strongbow sein. An der gesamten Frontlinie standen die Männer regungslos. An einer Ecke der Stadtmauer wirkten einige berittene Männer unruhig, doch sie vermutete, das lag an ihren Pferden. Gelegentlich schwenkte einer der Ritter aus der Frontlinie aus und ritt einen Kreis, bevor er sich wieder eingliederte. Sie sah, wie Gilpatrick durch das offene Tor hinausritt und sich zu seinem Vater und den anderen Priestern gesellte. Noch immer rührte sich niemand. Nun stieg der Erzbischof vom Pferd. König Diarmait und Strongbow taten es ihm nach. Männer trugen Stühle herbei, damit sie sich hinsetzen konnten. Offensichtlich würden die Verhandlungen einige Zeit dauern. Una wandte den Blick von der Szenerie ab und schaute kurz auf die Straße hinter sich. Und was sie sah, versetzte ihr einen gewaltigen Schreck.
Fionnuala spazierte unterhalb der Mauer die Straße entlang. Ein halbes Dutzend Jungen war bei ihr, und es sah ganz danach aus, als schäkerte sie mit ihnen. Sie hatte einem Jungen das Haar zerzaust und schlang gerade einen Arm um einen anderen. Es war doch unmöglich, dass sie nichts von der Situation der Stadt wussten. Vielleicht konnten sie sich einfach nicht vorstellen, dass die Engländer hineinkommen würden. Aber nicht Fionnualas Torheit, nicht einmal ihr Schäkern schockierten sie wirklich, sondern vielmehr die Tatsache, dass Fionnuala eigentlich im Hospiz sein sollte. Sie hatte es versprochen. Wer kümmerte sich nun um die Patienten? Una spürte, wie eine Woge der Empörung in ihr hochschlug.
»Fionnuala!«, schrie sie. »Fionnuala!«
Erstaunt blickte das Mädchen auf.
»Una. Was tust du denn hier?«
»Das ist unwichtig. Was tust du hier? Warum bist du nicht im Hospiz?«
»Mir war langweilig.« Fionnuala Gilpatrick schnitt eine lustige Grimasse.
Una schaute nur kurz über die Mauer, um festzustellen, dass der Erzbischof noch immer ins Gespräch vertieft war. Dann rannte sie zur Treppe, eilte die Stufen hinunter, und ohne die Jungen zu beachten, ging sie geradewegs auf Fionnuala zu. Sie war wütend. Noch nie war sie so in Rage gewesen. Als die Tochter des Priesters erkannte, dass Una es ernst meinte, lief sie weg, doch Una holte sie ein und zerrte an ihren Haaren.
»Du Lügnerin«, schrie sie. »Du dummes, nutzloses Miststück!« Sie schlug Fionnuala mit aller Kraft ins Gesicht. Fionnuala ohrfeigte sie zurück, doch nun schlug die Tochter des Schmieds mit der geballten Faust zu. Fionnuala schrie auf, riss sich los und rannte wieder davon. Una hörte die Jungen hinter sich lachen. Sie beachtete sie nicht und rannte hinter Fionnuala her. Sie wollte sie mit Gewalt zur Vernunft bringen. Nie zuvor war ihr so etwas passiert. Sie vergaß König Diarmait, Strongbow und sogar ihren Vater. Sie vergaß alle.
Sie rannten in Richtung Christ Church, dann links an den Buden der Pelzhändler vorbei und quer durch die Stadt auf den Markt zu. Fionnuala lief immer schneller, doch Una gab nicht auf. Sie war zwar kleiner als Fionnuala, doch sie zählte auf ihre größere Kraft. Wenn ich ihr erst einmal eine kräftige Tracht Prügel verpasst habe, werde ich sie ins Hospiz zurückzerren – und wenn es sein muss, an den Haaren, dachte sie. Dann fiel ihr ein, dass das Westtor geschlossen sein könnte. Sie kann froh sein, wenn ich sie nicht über die Mauer werfe, dachte sie grimmig. Sie sah Fionnuala auf den Marktplatz rennen. Die Stände waren geschlossen. Einen Moment später war Fionnuala verschwunden, aber Una wusste, dass sie sich irgendwo versteckt haben musste. Sie würde sie finden.
Dann blieb Una stehen. Was tat sie hier eigentlich? Es war gut und schön, dass sie sich über Fionnuala und die Kranken im Hospiz aufregte, aber was war mit ihrer Familie? Sollte sie nicht an der Stadtmauer Ausschau halten? Sie verfluchte Fionnuala und kehrte um.
Erst als sie etwa hundert Yards die Straße entlanggelaufen war, drang der Lärm an ihr Ohr. Sie hörte Rufe, lautes Getöse, noch mehr Rufe. Menschen rannten ihr entgegen. Dann hörte sie auf einmal hinten vom Marktplatz Lärm, und gleich darauf tauchte ein halbes Dutzend Ritter in Kettenhemden auf. Sie mussten durch das Westtor eingedrungen sein. Waffenmänner folgten ihnen. Una wusste, Fionnuala war dort irgendwo, und einen Moment meinte sie, unbedingt zurücklaufen und ihre Freundin retten zu müssen; doch dann erkannte sie, wie sinnlos das wäre. Wenn sie sich vor mir verstecken kann, dachte sie, dann kann sie sich auch vor ihnen verstecken. Jetzt sah sie berittene Soldaten vor sich. Sie musste zurück zu ihrer Familie und verschwand in einer schmalen Gasse.
Ihre Familie erwartete sie ängstlich am Tor. Zum Glück waren die Engländer noch nicht diesen Weg entlanggekommen. Sie hatte sich auf Vorwürfe gefasst gemacht, dass sie so lange fortgeblieben war, doch ihr Vater schien nur erleichtert, sie zu sehen.
»Wir wissen, was geschehen ist«, sagte ihre Mutter. »Diese verfluchten Engländer. Am Südtor sprechen sie mit dem Erzbischof, und gleichzeitig durchbrechen sie das Ost– und das Westtor. Eine Schande ist das.«
»Wir gehen zum Quai«, sagte Kevin MacGowan. Una fiel auf, dass ihr Vater nicht die Kassette in der Hand hielt. »Die Kathedrale ist bereits umzingelt«, erklärte er. »Und ich wage es nicht, sie jetzt durch die Straßen zu tragen. Darum habe ich sie an ihrem üblichen Platz versteckt. Gebe Gott, dass sie niemand findet.« Er zeigte auf einen Beutel, den er sich unters Hemd gebunden hatte. »Da ist genug drin für unsere Reise.«
Die Engländer strömten nun durch die Dubliner Stadttore, aber sie waren noch im oberen Teil der Stadt. Die Leute liefen bereits in Scharen über die Brücke zu den Vororten auf der Nordseite des Liffey, ohne jedoch zu wissen, ob sie dort vor den Engländern sicherer wären. Am Quai machten die Kapitäne gute Geschäfte. Welch ein Glück, dachte Una, dass an diesem Tag so viele Schiffe im Hafen lagen. Ein norwegisches Schiff fuhr bereits auf den Fluss hinaus und würde wahrscheinlich die Isle of Man oder die Inseln im Norden ansteuern. Ein Schiff war bereit, nach Chester auszulaufen. Das wäre am nächsten, doch das Schiff war bereits voll. Zwei weitere sollten nach Bristol ablegen, doch deren Kapitäne verlangten überteuerte Fahrpreise. Ein anderes sollte nach Rouen in der Normandie segeln. Ein französischer Händler, den MacGowan flüchtig kannte, ging gerade an Bord. Der Preis war weniger hoch als nach Bristol. Der Silberschmied zögerte. Rouen bedeutete eine längere, eine gefährlichere Reise. Außerdem sprach er kein Französisch. Er schaute noch einmal zurück zum Schiff nach Bristol, doch die Matrosen wiesen bereits Leute ab. Offensichtlich blieb ihnen keine andere Wahl. Widerwillig stapfte er zum Schiff nach Rouen.
Er zahlte gerade beim Schiffskapitän, als ein vertrautes Gesicht auftauchte. Ailred der Palmer schritt am Quai entlang in Richtung Hospiz. Kaum hatte er MacGowan entdeckt, eilte er rasch zu ihm.
»Ich bin froh, Euch gesund zu sehen, Kevin«, sagte er. »Wohin fahrt Ihr?«
Schnell erklärte ihm der Silberschmied die Situation und seine Befürchtungen.
»Ihr mögt Recht haben, die Stadt zu verlassen.« Ailred schaute den Hügel hinauf. In ein, zwei Gebäuden war Feuer ausgebrochen. »Gott weiß, was diese Engländer hier noch anrichten. Ihr werdet bestimmt Arbeit finden in Rouen, um Euch über Wasser zu halten, und ich werde Euch Nachricht geben von dem, was hier geschieht.« Nachdenklich schaute er auf Una. »Warum lasst Ihr Una nicht bei mir und meiner Frau, Kevin? Im Hospiz ist sie in Sicherheit. Wir stehen unter dem Schutz der Kirche. Sie kann Euer Haus für Eure Rückkehr vorbereiten.«
Una war entsetzt. Sie mochte Palmer, aber sie wollte nicht von ihrer Familie getrennt werden. Vor allem da sie sich sicher war, dass ihr Vater sie brauchte. Doch ihre Eltern schienen den Vorschlag zu begrüßen.
»Es ist mir lieber, du bist in Sicherheit im Hospiz, Una, als mit uns draußen auf der wilden See«, rief ihre Mutter. »Und wer weiß, ob wir nicht alle ertrinken.« Und ihr Vater legte den Arm um sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Du könntest die Kassette retten, wenn sich die Gelegenheit bietet.«
. »Aber, Vater«, protestierte sie. Alles ging viel zu schnell. Es war schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
Der Schiffskapitän wollte ablegen.
»Geh mit Ailred, Una. Das ist das Beste.«
Ihr Vater drehte sich so rasch um, dass sie ahnte, wie sehr ihn diese Entscheidung schmerzte. Doch es war sein letztes Wort, und sie wusste es.
Kurz darauf lief sie rasch an Ailreds fester, aber gütiger Hand zum Hospiz.
* * *
König Diarmait und Strongbow hatten, wie sich herausstellte, den Überraschungsangriff auf Dublin nicht befohlen. Während sie mitten in den Verhandlungen mit dem Erzbischof waren, stürmten einige hitzköpfige Ritter, die ihre Ungeduld nicht zügeln konnten, plötzlich auf die Stadttore zu und durchbrachen diese, ehe den Verteidigern überhaupt bewusst wurde, was da geschah. Der Überfall war geglückt: Weder Diarmait noch Strongbow konnten dies bestreiten. Sie und der Erzbischof hatten zugesehen, wie die Stadt fast kampflos gefallen war. Nachdem der irische König und sein neuer Schwiegersohn sich bei O’Toole entschuldigt hatten, waren sie in die Stadt geritten und hatten festgestellt, dass es nichts mehr zu tun gab. Dublin gehörte ihnen.
Nur wenige Gebäude standen in Flammen, es kam zu einigen Plünderungen, aber das war unvermeidlich. Den Soldaten musste Kriegsbeute zugestanden werden. Sie trieben es aber nicht zu weit und achteten darauf, keines der Ordenshäuser anzugreifen.
Dennoch flüchteten die Stadtbewohner in Massen. Dadurch gab es nun ausreichend Platz, die ganze Armee einzuquartieren; allerdings waren etwa die Hälfte aller Handwerker und Händler der Stadt über den Fluss oder das Meer geflüchtet, und sie stellten einen Großteil des Werts der Stadt dar. Auch der König von Dublin war entkommen wie es hieß, war er auf einem Schiff, das zu den nördlichen Inseln segelte. Es war damit zu rechnen, dass er Streitkräfte für einen Angriff sammeln würde.
Vier Tage nach der Besetzung machte sich Una vom Sankt–Johannes–Hospiz auf den Weg zu ihrem Elternhaus in der Stadt. Das Hospiz war von den Plünderungen verschont geblieben: Zwei Tage zuvor hatten tatsächlich König Diarmait und Strongbow höchstpersönlich, begleitet von einigen Rittern, dem Haus einen kurzen Besuch abgestattet. Una war beeindruckt gewesen von dem groß gewachsenen englischen Edelmann. Mit seinem feinen, ovalen Gesicht und seiner glanzvollen Haltung schien er ihr genauso eindrucksvoll wie sein königlicher Schwiegervater. Sie hatten dieses Siechenhaus so respektvoll wie eine Kirche betreten, und Diarmait hatte Ailred höflich gebeten, etwa ein halbes Dutzend Männer aufzunehmen, darunter zwei Engländer, die bei der Einnahme der Stadt verletzt worden waren.
Una hatte viel Arbeit im Hospiz, da Fionnuala nicht wieder aufgetaucht war. Ihr Vater hatte eine Nachricht geschickt, er wolle, dass sie im Augenblick bei ihm bleibe; doch Una hatte den Verdacht, es könnte noch einen anderen Grund für Fionnualas Fernbleiben geben. Sie hat gehört, dass ich hier bin, dachte sie, und sie will mir nicht gegenübertreten.
Als sie über den Marktplatz am Westtor ging, stellte sie fest, dass beinahe die Hälfte der Stände wieder geöffnet hatte und das Geschäft in ruhigen Bahnen verlief. Die meisten Häuser boten Soldaten Quartier, oft waren die ursprünglichen Bewohner offenbar selbst gar nicht mehr da. Die Engländer waren sonderbar. Mit ihrem rauen Akzent, ihrem ledernen Wams und dem gepolsterten Waffenrock wirkten sie irgendwie robuster, kompakter als die Männer, an deren Anblick sie gewöhnt war. Manche warfen ihr Blicke zu, die ihr unangenehm waren, doch niemand belästigte sie. Nachdem sie den Hang bei den Fish Shambles hinuntergegangen war, bog sie in die Straße ein, die zu ihrem Elternhaus führte.
Una fühlte sich plötzlich elend und war kurz davor umzukehren. Doch das konnte sie nicht. Allein schon ihrer Familie wegen müsste sie herausfinden, was aus dem Haus geworden war.
Die Straße war recht ruhig. Durch die Zäune hindurch konnte sie erkennen, dass sich auch hier in den meisten Häusern Soldaten einquartiert hatten. Als sie zum Zaun vor ihrem Elternhaus kam, schaute sie nervös zum Tor. Es stand offen. Sie trat näher, steckte den Kopf durch das Tor und blickte in den Hof. An der etwas verrückten Holzkohlenpfanne in der Werkstatt ihres Vaters und an den verstreut im Hof herumliegenden Gegenständen erkannte sie, dass jemand da gewesen sein musste. Vielleicht schliefen die Männer im Haus. Es wäre besser, sie ginge. Doch sie tat es nicht. Stattdessen schlich sie, nachdem sie noch einmal einen prüfenden Blick auf die Straße geworfen hatte, in den Hof. Es war still.
Die Kassette: welch eine Chance! Wenn sie nur schnell über den Hof zum Versteck huschen könnte. Es würde nur einen kurzen Moment dauern. Sie könnte das Kästchen mitnehmen und im Wollschal, der ihr über den Schultern lag, verbergen. Wie lange würde sie brauchen, um zur Christ Church zu laufen und es dort in Sicherheit zu bringen? Nur wenige Augenblicke. Mehr nicht. Und wann würde sich ihr je wieder eine solche Chance bieten? Vielleicht nie.
Aber waren Männer im Haus? Das war die Frage. Um zum Versteck zu gelangen, müsste sie an der offenen Tür Vorbeigehen. Sollte drinnen jemand wach sein, würde er sie wahrscheinlich sehen. Leise schlich sie über den Hof, an der Kohlenpfanne vorbei, am Brotofen vorbei. Sie müsste einen Blick durch die Tür werfen und herausfinden, ob jemand im Haus wäre. Sollten Soldaten sie zu Gesicht bekommen, würde sie wegrennen müssen. Una dachte nicht, dass man sie fangen würde. Endlich hatte sie die Tür erreicht.
Sie sah hinein. Sie konnte kaum etwas erkennen, da das einzige Licht von der Tür und der schmalen Öffnung im Dach kam. Kein Geräusch war zu hören. Nach einigen Augenblicken konnte sie die Bänke an den Wänden ausmachen. Niemand schien darauf zu liegen. Sehr zaghaft ging sie hinein. Nun konnte sie besser sehen. Sie schaute in die Ecke, wo ihre Eltern sonst schliefen, dann in ihre eigene Ecke. Nein. Es war niemand da. Plötzlich hatte sie das dringende Verlangen, zu ihrem Schlafplatz zu gehen, um noch einmal seine tröstende Vertrautheit zu spüren; aber sie wusste, sie dürfte es nicht. Mit einem Seufzer drehte sie sich um und trat wieder in den Hof. Sie überlegte, ob sie noch einmal vors Tor schauen sollte, und entschied, es wäre nicht nötig. Besser keine Zeit verlieren.
Rasch huschte sie zum Versteck unter dem Brotofen. Wenn man wusste, wie man den kleinen Stein beiseite schob und dann hineinlangte, dauerte es nur einen Moment. Sie schob ihren Arm hinein. Weiter. Sie tastete mit ihrer Hand umher. Und stieß auf…
Nichts. Sie konnte es nicht glauben. Sie tastete noch einmal. Wieder nichts. Es musste ein Versehen sein. Sie krempelte den Ärmel auf, bis ihr ganzer Arm frei war, und versuchte es wieder, tastete mit der Hand hier und da und schob sie so weit vor, bis sie die Rückwand des Verstecks berührte.
Es gab keinen Zweifel. Das Versteck war leer. Die Kassette war gestohlen. Plötzlich fühlte sie eine kalte Panik und dann ein Übelkeit erregendes Elend: Irgendjemand hatte den Schatz ihres Vaters gefunden. Der ganze Besitz ihrer Familie war weg. Sie zog den Arm heraus und sah sich um. Wo könnten sie das Kästchen hingetan haben? Drinnen im Haus vielleicht? Zumindest war es einen Versuch wert. Sie schaute zum Tor, noch immer niemand. Sie rannte zurück ins Haus.
Die Unordnung dort störte sie ebenso wenig wie die Dunkelheit. Sie kannte jedes Eckchen, jeden Spalt und jedes Versteck. Mit ungeheurer Geschwindigkeit ging sie an den Wänden entlang, rückte die Bänke ab, warf Umhänge, Decken und sogar ein Kettenhemd wild durcheinander auf den Boden. In ihrer Aufregung ließ sie sogar zwei Metallschalen scheppernd zu Boden fallen. Sie arbeitete schnell und gründlich, und am Ende, als sie mit dem Rücken zur Tür stand und elend in das stille Dunkel sah, hatte sie die Gewissheit, dass die Kassette nicht da war. Sie war zu spät gekommen. Die plündernden englischen Soldaten hatten sie gefunden, und sie würde sie nie zurückbekommen. Ihr Vater hatte alles verloren, wofür er jahrelang geschuftet hatte. Ihr Kopf sackte vornüber. Sie wollte weinen.
Was wäre gewesen, wenn sie, statt dieser dummen Fionnuala hinterherzujagen, auf der Stadtmauer Ausschau gehalten und den Angriff der Engländer beobachtet hätte? Was wäre gewesen, wenn sie dann schnurstracks zu ihrem Vater gerannt wäre? Hätte er dann nicht genügend Zeit gehabt, die Kassette sicher in die Christ Church zu bringen? Oder zumindest hätte er sich, wäre sie eher nach Hause gekommen, sicherer gefühlt und das Kästchen einfach mit zum Quai genommen. Auch wenn ihr die Vernunft sagte, dass diese Vermutung falsch sein konnte, sagte ihr Herz etwas anderes. Es ist meine Schuld. Sie stand vom Schmerz so überwältigt in der stillen Leere ihres Elternhauses, dass sie die Hand auf ihrer Schulter im ersten Moment nicht einmal spürte.
»Suchst du was?«
Die Stimme eines Engländers! Una wirbelte herum. Eine Hand griff sofort nach ihrem Arm und umklammerte ihn.
Ein nietenverzierter Lederwams, eine schartige Schramme auf der rechten Seite. Ein Gesicht mit dunklen Bartstoppeln, die einige Tage alt waren; eine große Nase, blutunterlaufene Augen. Er war allein.
»Suchst du etwas, was du stehlen könntest?« Sie verstand ihn nicht richtig. Er hielt ihr eine Silbermünze vors Gesicht. Una war sich zwar nicht ganz sicher, aber sie sah genauso aus wie die im Kästchen ihres Vaters. Er gluckste, als er die Münze weglegte. Sie sah ein seltsames mildes Schimmern in seinen Augen. »Du hast mich gefunden.«
Während er mit der einen Hand ihren Arm festhielt, begann er mit der anderen, seinen Waffenrock zu öffnen. Sie mochte vielleicht seine Worte nicht verstehen, doch an seinen Absichten gab es keinen Zweifel. Sie wand sich, um freizukommen. Seine Hand war groß und schwielig. Als er sie zurückstieß, spürte sie, mit welcher Leichtigkeit er es tat, und ihr wurde klar, wie viel stärker er war. Nie zuvor hatte sie solche Angst verspürt.
»Die Strafe für Diebstahl ist viel schlimmer als das, was ich mit dir machen werde«, sagte er. Er merkte, dass sie ihn nicht vollständig verstand, doch das hinderte ihn nicht daran, weiterzureden. »Du kannst froh sein, ja, froh sein, dass du mich bekommst.«
Una war so erschrocken und verängstigt, dass sie bislang sogar vergessen hatte zu schreien.
»Hilfe!«, schrie sie nun so laut sie konnte. »Vergewaltigung!« Nichts geschah. Sie schrie wieder.
Den Soldaten schien dies nicht zu stören. Sein Wams war nun offen.
Plötzlich wurde Una bewusst, selbst wenn man sie hören sollte, würde niemand ihr Schreien beachten. Wahrscheinlich waren alle Nachbarhäuser von englischen Soldaten besetzt, und die würden sie nicht einmal verstehen. Una holte noch einmal tief Luft, um zu schreien.
Und dann beging er einen Fehler: Als er sein Wams auszog, ließ er einen Moment ihren Arm los. Es war zwar nur ein Moment, doch mehr brauchte sie nicht. Er sah, wie sie ihren Mund zum Schrei öffnete, doch er sah nicht, wie sie zutrat, bis es zu spät war. Sie legte ihre ganze Kraft hinein. Er spürte plötzlich einen stechenden Schmerz in seiner Leiste aufflammen. Er krümmte sich zusammen und hielt sich vor Höllenpein die Hände vor den Leib.
Sie flüchtete. Ehe er sich aufrichten konnte, war sie bereits durch das Tor hinausgestürmt. Sie rannte die Straße entlang und wusste kaum, welchen Weg sie einschlug. Eine Gruppe Soldaten stand ihr im Weg. Es sah so aus, als wollten die Männer sie vorbeilassen. Da hörte sie seine Stimme in ihrem Rücken.
»Eine Diebin! Haltet sie!«
Kräftige Arme hielten sie fest. Sie versuchte, sich loszumachen, doch vergeblich. Der Soldat, der sie bedroht hatte, kam nun die Straße entlang. Er hinkte, und sein Gesicht war wutverzerrt. Sie wusste nicht, ob er noch einmal versuchen würde, sie zu vergewaltigen, doch gewiss würde er es ihr heimzahlen.
Nun war er bei ihnen angelangt. Er schob sein Gesicht vor ihres.
»Was ist hier los?« Eine gebieterische Stimme hinter Una. Die Männer rückten auseinander.
»Dieses Mädchen ist eine Diebin«, rief der Soldat. Una jedoch sah ein dunkles Gewand und schaute auf.
Es war Vater Gilpatrick, der die Frage gestellt hatte.
»Vergewaltigung.« Das war alles, was Una herausbrachte. Sie zeigte auf den Mann mit dem unrasierten Gesicht. »Er hat versucht… ich bin in mein Elternhaus gegangen…« Das war genug. Wütend wandte sich der Priester den Männern zu.
»Schurken«, rief er. Sie verstand nicht alles, was er sagte, denn er sprach Englisch mit ihnen. Doch sie hörte vertraute Namen: Sankt Johannes–Hospiz. Der Erzbischof. König Diarmait. Die Männer blickten verwirrt zu Boden. Und Una sah, dass ihr Angreifer ganz blass wurde. Dann führte Vater Gilpatrick sie weg.
»Ich habe ihnen gesagt, dass du im Hospiz unter dem Schutz der Kirche stehst. Ich werde beim Erzbischof Klage erheben. Bist du verletzt?«, fragte er sanft.
Sie schüttelte den Kopf und schilderte, wie sie sich zur Wehr gesetzt hatte.
»Genau richtig, mein Kind«, sagte er.
Sie erzählte ihm von der fehlenden Kassette und der Münze in der Hand des Soldaten. »Ach, ich fürchte, da kann man nichts machen«, meinte er traurig.
Er begleitete Una zum Siechenhaus und sprach ruhig auf sie ein, so dass Una, als sie ankamen, sich nicht nur besser fühlte, sondern auch gemerkt hatte – was ihr nie zuvor aufgefallen war –, wie außergewöhnlich gut der junge Priester aussah. Als sie das Hospiz betraten, steckte die Frau des Palmers sie sofort ins Bett, brachte ihr warme Brühe und tröstete sie.
Am nächsten Morgen hatte Una ihre Furcht überwunden und arbeitete im Siechenhaus wie immer. Aber innerlich hatte sie sich verändert. Ein ebenso heimtückischer wie ungerechtfertigter Gedanke wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen: Mein Vater hat alles verloren, was er besitzt. Und ich bin daran schuld.